Syrer verlassen Greifenstein
Ziemlich genau ein Jahr nachdem die achtköpfige syrische Flüchtlingsfamilie in Greifenstein-Beilstein eine Unterkunft bekam, verlässt sie uns nun wieder. Es ist viel passiert in diesen zwölf Monaten.
Bis auf den Kleinsten haben die Kinder die Schule oder den Kindergarten besucht und Deutsch erstaunlich schnell gelernt. Bis heute immerhin soweit, dass sie sich recht gut verständigen können. Sie haben im Dorf Gleichaltrige zum Spielen gefunden und auch Kontakt zu anderen syrischen Familien in der Nähe aufbauen können.
Nachbarn und Freiwillige haben sie nicht nur im Alltag und beim Lernen unterstützt. Auch allgemeine Beratungen in Behörden-Angelegenheiten und Hilfe beim Verstehen von amtlichen Schreiben standen zur Verfügung. Es wurde ihnen viel Sympathie entgegengebracht, was unter anderem auch daran liegt, dass sie alle acht freundlich, offen und sehr bemüht sind.
Die Eltern Najwa und Muhammad haben sich rasch im Alltag zurechtgefunden, Muhammad absolvierte einen Integrationskurs. Sie haben nach anfänglichen Orientierungsproblemen schnell ihr Leben eigenständig zu organisieren gelernt. Den Fahrplan der öffentlichen Verkehrsmittel kennen sie sicherlich jetzt besser als mancher Einheimischer.
Nun, nachdem sie nicht mehr „Asylsuchende“, sondern anerkannte Flüchtlinge sind, haben sie sich entschieden. Sie wollen in die Kreisstadt Wetzlar ziehen, in den Ortsteil Hermannstein. Auch die anderen syrischen Familien, die in Greifenstein aufgenommen wurden, kehren nun der Gemeinde den Rücken. Die meisten gehen nach Wetzlar und nach Dillenburg. In die Kreisstädte zieht es sie alle. Bevor ihre Häuser und Wohnungen in Syrien zerbombt wurden, ein normales Leben und eine gute Zukunft für sie und ihre Kinder nicht mehr vorstellbar waren, lebten sie auch zuvor in Städten oder Stadtnähe.
„Ich wäre gerne hier in Beilstein geblieben!“ sagt Muhammad, der gerade den deutschen Führerschein macht. Die Greifensteiner Fahrschule sei gut – und überhaupt hätte er nur Positives vom Dorf zu berichten. Er würde sich ein Auto kaufen und sei ja bald mobil, so hofft er zumindest.
„Aber was soll meine Frau mit den 6 Kindern in Greifenstein machen?“ Wenn er sich um Arbeit bemühen würde und bald eine feste Stelle hätte, wäre es für Frau und Kinder schwierig im Dorf. Denn dann ist er samt Auto und Führerschein für die Familie nicht mehr verfügbar.
„Es gibt ja noch nicht mal einen Supermarkt in der Nähe, wir müssen für alles fahren.“ Und das würde sehr viel Zeit verbrauchen. Auch eine gute Auswahl an Weiterbildungskursen für die Ehefrau und die Kinder gäbe es nur in der Stadt. „Ich würde wirklich gerne hierbleiben.“ betont er noch einmal, denn die Landschaft sei schön, die Luft gut, es sei ein sicheres Leben, es gäbe keine Kriminalität und die Leute seien wirklich sehr freundlich.
„Aber der Familienrat hat mich überstimmt!“ Sechs der acht Familienmitglieder seien für den Wegzug in die Stadt gewesen, wobei der Kleinste „Rawad“ mit seinen zweieinhalb Jahren seine einzige Unterstützung gewesen sei, sagt er augenzwinkernd, denn sein kleiner Sohn, der den Spitznamen Lulu hat, würde sowieso alles gut finden, was Papa sagt.
Besonders die große Tochter Rana und sein ältester Sohn Rayan wollen in die Stadt.
„Hier ist nichts los, wir kommen hier nicht weiter.“ sagt Rayan und die 14-jährige Rana ergänzt: “In Greifenstein gibt es nicht die Kurse, die ich brauche, die in Wetzlar angeboten werden. Ich will mich unbedingt weiterbilden.“ Für Mutter Najwa ist ein wichtiger Punkt die Nähe zu den Behörden und der einfachere Einkauf. „Für mich wird das Leben leichter. Das geht alles ohne stundenlange Busfahrten. Teilweise zu Fuß.“
Nach den Unterhaltungen mit den anderen Greifensteiner Flüchtlingsfamilien hat man im Dezember den Entschluss gefasst, nach Wetzlar zu ziehen. Vier Familien, die in Beilstein, Odersberg und Nenderoth untergebracht waren, werden jetzt nach erfolgter Anerkennung als Flüchtlinge und somit Änderung des Status in die Kreisstädte Wetzlar und Dillenburg ziehen.
Das alles spiegelt einmal mehr die grundsätzliche Problematik der Landgemeinden wider. Denn wenn es den Kommunen nicht möglich ist, für den Zuzug von Familien interessant zu sein, nützen auch niedrige Immobilienpreise nichts. Wenn das Leben für Familien zu aufwändig und zu schwierig zu gestalten ist, weil einfach die Infrastruktur zu schwach ist oder in Teilen sogar ganz fehlt, dann wird der Vorteil der Stadt immer weiter in den Vordergrund rücken.
Der Kollaps der Zentren und das Ausbluten strukturschwacher Regionen ist keine neue Tendenz. Aber man kann gegensteuern.
Die Attraktivität eines Lebens auf dem Land lässt sich nur durch eine „In-Wert-Setzung“ steigern.
Gute Luft und schöne Natur allein können nicht in Wert gesetzt werden, wenn diese nicht in Konzepte zur Freizeitgestaltung in Verbindung mit dem Vorhalten grundlegender Infrastruktur eingebunden sind. Erst dann kann eine Gemeinde wie Greifenstein überleben. Das eine hängt notwendig am anderen.
Angefangen von Arbeitsplätzen bis hin zur medizinischen Versorgung:
Ohne ausreichende Angebote und eine hinlängliche Versorgungsstruktur wird die Gemeinde für den Zuzug von Ärzten und Firmen genauso uninteressant sein wie für das Niederlassen von neuen Familien. Selbst die angestammte, aber älter werdende Bevölkerung wird gezwungen sein, Greifenstein den Rücken kehren, wenn das Alltagsleben auf dem Land zu umständlich und mühevoll wird.
Wir müssen unseren kommunalpolitischen Spielraum auf allen Ebenen effektiv nutzen, um die Gemeinde lebenswert und zukunftsfähig zu machen, um einer Entvölkerung noch entgegen zu wirken und letztlich eine Unfinanzierbarkeit ihrer Pflichtaufgaben zu verhindern.
Fotos: by Manuela Jung – mit freundlicher Genehmigung